Der Begriff Ökosystem floriert auch in der Versiche- rungswirtschaft. Unternehmen schließen Partner- schaften oder organisieren sich in kollaborativen Netzwerken, um gezielt ihre Stärken zu kombinieren. Dadurch schaffen sie ein Werteversprechen, das im Ideal- fall größer ist als die Summe der Einzelstärken. Kunden können so Leistungsangebote in Anspruch nehmen, die ihre Bedürf- nisse holistisch befriedigen. Flexibilität und Reaktionsge- schwindigkeit sind weitere zentrale Stärken, die erklären, wa- rum Ökosysteme zunehmend an Relevanz gewinnen. Unter- nehmen, die sich nicht bald in diese Richtung bewegen, riskie- ren kurzfristig ihre Wettbewerbsposition und langfristig den Spielraum, sich innerhalb von Ökosystemen zu positionieren. Für Nachzüglern bleiben im besten Fall unbesetzte Nischen übrig.
Einstieg in Ökosysteme: Darauf kommt es an
In einem Ökosystem arbeiten mehrere, unabhängige Unter- nehmen koordiniert zusammen, um Kundenbedürfnisse zu einem bestimmten Themenfeld zu erfüllen. In der Versiche- rungsbranche sind das u.a. Gesundheit, Mobilität, Wohnen und Vermögensverwaltung. Dabei verschwimmen klassische Branchengrenzen und es werden netzwerkartige Kooperationen geschaffen, in denen sich Akteure auf Augenhöhe begegnen. So genannte Orchestratoren betreiben das Ökosystem und koordinieren die einzelnen Teilnehmer. Sie definieren das gemeinsame Nutzenversprechen und schaffen Regeln für das Zusammenwirken. Damit nehmen sie die zentrale Rolle im Ökosystem ein. Durch die Zusammenführung verschiedener Leistungsangebote aus einer Hand kann unter anderem die Zahlungsbereitschaft positiv beeinflusst werden.
Häufig genannte Ökosysteme wie das des Autobauers Tes- la oder das des chinesischen Versicherungsunternehmens Ping An haben eine große Strahlkraft, sind aber aufgrund ihrer Komplexität keine Blaupause für den Einstieg. Die Kompositi- on der zahlreichen Facetten wie Geschäfts-, Daten- und Pro- dukt-Strategie, sowie die Vielzahl der involvierten Parteien sorgen dafür, dass Ökosysteme zunächst eine weitentfernte Vision darstellen.
Zu Unrecht, denn Versicherungen bringen wesentliche Voraussetzungen mit. Sie haben jahrelange Erfahrung in der partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit Unternehmen aus verschiedenen Branchen gesammelt. Dadurch haben sie neue Produktangebote geschaffen und nutzen neue Vertriebskanäle – und das in „fremden“ Branchen. Im Kfz-Versicherungsmarkt hat beispielsweise die Allianz eine Partnerschaft mit dem ADAC sowie Axa und Generali eine mit BMW. Sie stellen erste Schritte in Richtung Ökosystem dar und unterstreichen die Kollaborationskompetenz von Versicherungen.
Mehr Mut zum Ökosystem Oft fehlt der Mut, weiterzugehen und die Partnerschaften zu einem echten Ökosystem auszubauen. Noch handelt es sich um bilaterale Partnerschaften, die Kundenbedürfnisse noch nicht umfassend adressieren. Diese sollten erweitert werden, um mittels breitem, verknüpftem Leistungsangebot mehr Wert- schöpfungsanteile abzudecken und den Kunden in seiner ge- samten Situation abzuholen. In diesem Sinne gründeten Daim- ler und Swiss Re das Joint Venture Movinx, das den Fokus auf die Versicherungsvermittlung und -dienstleistung legt.
Gemeinsames Ziel ist es, die Automobil- und Mobilitätsver- sicherungsbranche mit einem vollständig digitalen Geschäftsmodell, sowie flexiblen und kundenorientierten Produkten weiterzuentwickeln. Wie von Daimler bekanntgegebenen, ist das Joint-Venture für Kooperationen mit weiteren Akteuren wie Autobauern und Mobilitätsdienstleistern offen.
Neben der Ausweitung von Partnerschaften braucht es aber auch Orchestratoren, die das Ökosystem aktiv betreiben. Im digitalen Umfeld bedeutet das, eine technische Basis aufzubau- en, auf der einzelne Services der Teilnehmer zu einem integ- rierten Leistungsangebot zusammengefügt werden. Unterneh- men, die diese Rolle einnehmen, profitieren einerseits von ihrer aktiven Gestaltung des Geschäftsmodells, aber auch vom Zu- gang zu Transaktionsdaten, die sie für die zielgerichtete Platzierung eigener Angebote im Ökosystem nutzen können.
Versicherungsunternehmen müssen sich jetzt ihrer Rolle bewusstwerden. Dazu sollten sie den eigenen Kosmos verlassen und ein geschäftsübergreifendes Bewusstsein schaffen.
Grundlagen schaffen
Ökosysteme „denken“ ist in Unternehmen häufig nur ein frommer Wunsch, denn entscheidend ist, dass auch in diesem Kontext zunächst die Grundlagen geschaffen werden. So müs- sen Leitplanken aus den Ökosystem-Überlegungen mit in die Geschäftsstrategie Einzug halten und auf diese Weise für die weitere Ausrichtung verankert werden. Weitere entscheidende Elemente für moderne Ökosysteme und deren Bebauung sind eine grundlegende Datenstrategie, sowie eine das Ökosystem insgesamt berücksichtigende Produktstrategie.
Übergeordnete Geschäftsstrategie
Sobald das Bewusstsein für Ökosysteme geweckt ist, sollte sich dieses auch in der Ausrichtung der Geschäftsstrategie wiederfinden. So müssen in der Definition der Leitplanken für die zukünftige Geschäftsausrichtung auch eine Partner- und Produktstrategie Berücksichtigung finden. Weiter sollten Ver- sicherungsnehmende im Zentrum der Überlegungen stehen. Nur bei holistischer Betrachtung entstehen neuartige Konzepte, die Kundenbedürfnisse auf neue Weise befriedigen. Ein Bei- spiel hierfür ist die Allianz. Sie betreibt mit dem „Handwerker Reparatur Dienst“ eine Plattform, die Kunde, Versicherer und Handwerker verbindet und so den Aufwand einer Schadensbe- hebung für alle Teilnehmer reduziert.
Daten als Basis
Daten bilden eine entscheidende Grundlage für die erfolg- reiche Entwicklung eines Ökosystems. Ziel ist es, Daten zu verwenden, zu teilen oder gemeinsam im Ökosystem zu nutzen. Eine große Herausforderung bei der Bildung der Datenbasis ist die dezentrale Verteilung der Daten in unterschiedlichen Ge- schäftsfeldern. Dabei sind in der Vergangenheit Datensilos entstanden, die aufgebrochen werden müssen.
Für die Operationalisierung der Datenstrategie muss ein Daten-Management aufgesetzt werden, das nachhaltig die Stra- tegie im Unternehmen implementiert. Datendomänen können beispielsweise ein geeignetes Werkzeug sein, um diese Bemühungen zu unterstützen und verschiedene Datenquellen in einen kundenzentrierten Kontext zu setzen. Ein weiteres Fokusthema ist dabei auch die Wertgenerierung, die so ermöglicht wird.
Produkte völlig neu denken
Ökosysteme sind prädestiniert für die Erweiterung und das Neudenken der Produktstrategie. Durch die verteilte Wertschöpfungskette innerhalb eines Ökosystems sind es häufig die Daten, die eine Weiterveredelung der Produkte ermöglichen. Dabei ist darauf zu achten, dass innerhalb eines Ökosystems die Teilung der Daten mit Dritten und andere Rahmenbedingungen wie rechtliche und datenschutztechnische Aspekte berücksichtigt werden. Mit datengetriebenen Produkten kann einerseits dezentrale Wertschöpfung im Ökosystem verstärkt werden und können andererseits auch gänzlich neue Angebote entstehen, zum Beispiel Telematik-Versicherung oder Scoring Data Produkte.
Ein Paradebeispiel für die Ausrichtung der Geschäftsstrategie in Richtung Ökosystem ist Ping An. Der Konzern hat für
seine Konsumenten ein dichtes Netz an verfügbaren Diensten gebaut, das u.a. aus der Fahrzeug-Plattform „Auto Home“, der Medizin-Plattform „Good Doctor“ und der Allfinanz-Website „One“ besteht. Damit sichern sie sich Wertschöpfungsanteile und eine breite Nutzerbasis mit Potential für Cross-Selling.
Ausblick
Die Definition und Bebauung von Ökosystemen schreitet aufgrund der sehr guten Ausgangsvoraussetzungen in der Versicherungsbranche voran. Entsprechend haben Innovatoren schon erste eigene Ökosysteme aufgebaut. Aufgrund der steigenden Marktdynamik sind ein erhöhter Druck für alle Versicherungsunternehmen zu erwarten, sich in Ökosystemen zu positionieren und so neue Versicherungsprodukte und Vertriebskanäle zu ermöglichen sowie die Grenzen der Wertschöp- fung zu erweitern. Egal, wo Unternehmen in der Versicherungsbranche heute in Bezug auf Ökosysteme stehen, es ist jetzt Zeit zu handeln. Dabei sollten stets der Kunde und dessen Lebenswelten und Bedürfnisse konsequent im Fokus stehen.
Autor: Bodo Forstmann – Partner (Ginkgo Management Consulting GmbH)
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